Medienmitteilung

ESG: Tatsächlich ein unverschämter Schwindel?

Dr. Lars Kaiser, Head Group Sustainability
Lesedauer: 6 Min
Mit seiner Aussage «ESG is an outrageous scam» also zu Deutsch «ESG ist ein unverschämter Schwindel» hat Elon Musk, Gründer des Autobauers Tesla, zur aktuell hitzig geführten Nachhaltigkeitsdebatte in der Finanzwelt beigetragen. Doch so einfach ist das Ganze nicht.

Die englische Abkürzung ESG steht für Umwelt (Environment), Soziales (Social) und Unternehmensführung (Governance) und ist aus der heutigen Wirtschaftswelt nicht mehr wegzudenken. Zu den ESG-Kriterien werden unter anderem Aspekte wie Naturgefahren und Klimarisiken, Verstösse gegen die Menschenrechte und Datenschutzverletzungen gezählt. Diese Kriterien können von Unternehmen als Risiken und Chancen beurteilt werden und entsprechend in die Investitionsentscheidung integriert werden. Ob aus der daraus resultierenden Investition ein tatsächlicher realer Mehrwert für Umwelt und Gesellschaft entsteht, der andernfalls nicht realisiert worden wäre, steht auf einem anderen Blatt. Hier bedarf es eines klaren Erwartungsmanagements und einer Abgrenzung der Begrifflichkeiten. Doch eins nach dem anderen.

Im Jahr 2005 nahm der Begriff ESG seinen Ursprung. Im Rahmen des Freshfield Report, der durch die Finanz-Initiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen in Auftrag gegeben wurde, sollte geklärt werden, ob es institutionellen Anlegern (z.B. Versicherungsgesellschaften) rechtlich gestattet ist, ESG-Kriterien in ihren Anlageentscheidungen zu berücksichtigen. Das Ergebnis war wegweisend: «Auf der Grundlage, dass die Einbeziehung von ESG-Kriterien in die Anlageanalyse zu einer zuverlässigeren Vorhersage der finanziellen Performance führt, ist eine Berücksichtigung eindeutig zulässig und wird wohl in allen untersuchten Rechtsordnungen verlangt.» Folglich steht die Berücksichtigung von umwelt- und sozialrelevanten Aspekten bei Investitionsentscheidungen nicht zwangsläufig im Widerspruch zur treuhänderischen Pflicht. Das war vor 17 Jahren.

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ESG und Wirkung sind klar zu unterscheiden


Entscheidend in dieser Auslegung ist, dass eine Relevanz in Bezug auf die finanzielle Leistung gegeben sein muss. Diese wird als finanzielle Materialität oder finanzielle Wesentlichkeit bezeichnet und beschreibt die Outside-In-Perspektive. Gemeint ist der Einfluss externer ESG-Kriterien auf ein Unternehmen. Konkret umfasst es diejenigen ESG-Kriterien, die ein wesentliches Risiko oder eine Chance für die finanzielle Ertragslage darstellen. Jede Organisation verfügt über einen individuellen Kriterienkatalog an wesentliche ESG-Themen. Ein Beispiel hierfür sind negative Auswirkungen auf die Ertragslage bei energieintensiven Industrien (z.B. die Chemie- oder Baustoffbranche), resultierend aus sozialen Unruhen und sich daraus ergebenden Lieferengpässen oder der Einführung einer CO2-Steuer.

Eine Erweiterung stellt die doppelte Materialität oder doppelte Wesentlichkeit dar. Hierbei werden die positiven und negativen Auswirkungen eines Unternehmens auf soziale und umweltrelevante Aspekte miteinbezogen. Dies wird als Inside-Out-Perspektive bezeichnet. Dazu zählen zum Beispiel positive Auswirkungen auf die Umwelt durch den Ausbau erneuerbarer Energien oder negative soziale Effekte aufgrund der Nichteinhaltung von Menschenrechten. Die zugrundeliegende Frage ist also je nach Fokus, ob meine Investitionen zu einer Verbesserung von Umwelt und Gesellschaft führen oder ob ich durch meine Investitionen gar negative Auswirkungen bewirke. 

Erwartungen gilt es durch Transparenz zu managen

Das zugrunde liegende Problem der Thematik hat zwei Aspekte im Kern: Erwartungen und Komplexität. Das Konzept der Materialität und das Verständnis für die Unterscheidung der zwei Ausprägungen bieten eine wichtige Trennschärfe. Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit verbinden wir zumeist einen Mehrwert für Umwelt, Mensch und Gesellschaft; zumindest aber keine negativen Auswirkungen. Der Begriff ESG wird bei Finanzanlagen vielfach als Synonym verstanden. Doch ESG ist nicht gleich nachhaltig. Vielmehr ist die Berücksichtigung von finanziell-relevanten ESG-Kriterien losgelöst von der Erzielung einer positiven umwelt- und sozialrelevanten Wirkung zu sehen – ganz im Sinne der zwei Ausprägungen von Materialität. Eine darauf ausgerichtete Unterteilung des ESG-Anlageuniversums kann bei transparenter Kommunikation Erwartungen von Anlegern besser managen und unrealistische Erwartungen bezüglich einer umwelt- und sozialrelevanten Wirkung vermeiden. Finanzinstitutionen können sich entsprechend einer der beiden Wesentlichkeitsausprägungen auf Unternehmens- und/oder Produktebene verschreiben. Damit ist für Kundinnen und Kunden klar ersichtlich, ob auf eine Wirkung abgezielt wird oder nicht.

Komplexität im Zusammenspiel dreier Dimensionen

Der Aspekt der Komplexität ist der zweite Stolperstein in der Debatte, der auch Elon Musk ins Straucheln gebracht hat. Ausschlaggebend für seine emotionalen Twitter-Beiträge - z.B. «ESG ist ein unverschämter Schwindel» - war der Ausschluss von Tesla aus dem S&P ESG Index im Mai 2022. Nach Ansicht des Tesla-CEO tut seine Firma mehr für die Umwelt als jedes andere Unternehmen. Das Problem: Selbst wenn das so ist, spielen auch soziale Aspekte und die Qualität der Unternehmensführung eine wichtige Rolle im ESG-Kontext. Letztere hat nicht zuletzt durch seine Twitter-Beiträge gelitten, wenn auch der Ausschluss aus dem Index vor allem durch Sorgen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen begründet sind. Gleichzeitig haben die Wettbewerber von Tesla aufgeholt, wodurch der Vorsprung bezogen auf die Umweltkriterien - das "E" in ESG - relativ zu den Mitbewerbern gesunken ist. 

Das Beispiel von Tesla zeigt die Komplexität der Thematik und das Spannungsfeld zwischen den ESG-Komponenten auf. So kann ein Unternehmen eine sehr hohe Bewertung mit Blick auf Umweltaspekte erhalten, jedoch einen niedrigen Wert bezogen auf die Unternehmensführung. Inwieweit diese Aspekte gegeneinander aufwiegen, bleibt offen, und dies stellt viele Investoren und Produktanbieter vor eine grosse Herausforderung. Ein weiteres Beispiel bieten Immobilien. Aus Umweltsicht kann die Renovierung einer Wohnimmobilie vorteilhaft sein, um Energieverbrauch und Betriebskosten durch eine bessere Aussenisolierung, Fenster mit Doppelverglasung etc. zu senken. Doch welche Konsequenzen hat dies für die Bewohner? Müssen sie ihre Wohnung für den Zeitraum der Renovierungen verlassen? Gibt es eine adäquate Alternative? Steigt der Mietzins im Anschluss an die Renovierungsarbeiten? Eine Entscheidung hinsichtlich einer positiven Wirkung kann mit Blick auf Umwelt- oder soziale Aspekte sehr unterschiedlich ausfallen und zeigt die Herausforderung bei der Beurteilung nachhaltiger Investitionen im Sinne der doppelten Wesentlichkeit auf: die Wirkungsmessung. Ein Thema, das sowohl bei Investoren als auch Regulatoren weit oben auf der Agenda steht.

Was fehlt, ist ein konstruktiver Dialog

Auf komplexe Probleme gibt es also keine einfachen Antworten – zumindest keine sinnvollen. Das Zusammenspiel zwischen der Komplexität auf der einen Seite und einer Vielzahl an unterschiedlichen Erwartungen auf der anderen Seite ist ein emotionales Spannungsfeld. Das zeigen auch die jüngsten Massnahmen in Texas, wo zahlreiche Finanzinstitutionen an den Pranger gestellt wurden, weil diese Energieunternehmen bei ihren Investitionen boykottieren, zumindest auf dem Papier. Nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass der Energiesektor in Texas eine bedeutende Rolle spielt. Schwieriger wird es allerdings, wenn man bedenkt, dass dieselben Finanzinstitutionen ebenfalls durch Umweltschützer an den Pranger gestellt werden, weil ihre «Papierversprechen» nicht ausreichend in die Tat umgesetzt werden. Was bleibt, ist Verwirrung und Unverständnis auf allen Seiten. Was häufig fehlt, ist ein konstruktiver Dialog zwischen den Interessengruppen, um Lösungen für die faktisch existierenden Umweltprobleme und sozialen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.

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