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Die Notenbanken schlagen ein neues Kapitel auf

Lesedauer: 12 Min
Erstaunlich! Zwar ist es um die konjunkturelle Entwicklung nicht mehr zum Besten bestellt, doch dass die grossen Notenbanken so kräftig ihre Ruder herumreissen, ruft nun doch ein Raunen hervor. Im zweiten Halbjahr dürften Zinssenkungen auf dem Programm stehen. Das ist aussergewöhnlich, denn die Weltwirtschaft wächst auf dem Niveau des langjährigen Durchschnitts. Wir suchen nach Erklärungen für dieses übervorsichtige Verhalten.

Die australische Notenbank machte bereits Nägel mit Köpfen und senkte den Leitzins Anfang Juni um 25 Basispunkte auf 1.25 %. Die geldpolitische Lockerung erfolgte allerdings ohne Not. Im laufenden Jahr wird Australien ein Wachstum von voraussichtlich 2 % ausweisen, gleichzeitig ist die Inflation unter Kontrolle. Das Zinsmanöver steht repräsentativ für ein Novum in der Wirtschaftsgeschichte: Die Zentralbanken scheinen zu handeln, ohne dass akute Gefahr in Verzug ist. Tatsächlich bereiten die EZB als auch die US-amerikanische Notenbank Fed Zinssenkungen vor, obwohl es bislang keine Anzeichen von Überhitzungen gibt, auf die Notenbanken normalerweise reagieren.


EZB wird handeln

Tatsächlich ist die Eurozone derzeit nicht auf Rosen gebettet. Die Handelsstreitigkeiten belasten gerade die exportabhängige deutsche Wirtschaft, was in weiterer Folge auch auf den gesamten Währungsraum negativ abfärbt. Die italienische Volkswirtschaft präsentiert sich ohnehin als «kranker Mann», was die Wachstumsdynamik einmal mehr ausbremst. .Allerdings sind die Rezessionsrisiken bislang noch überschaubar. Die von der VP Bank berechnete Wahrscheinlichkeit für eine wirtschaftliche Kontraktion liegt derzeit bei 23 %. Die Notwendigkeit einer geldpolitischen Lockerung lässt sich daraus nicht ableiten. Allerdings bleibt die Inflationsrate unter Herausrechnung der volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise (Kerninflationsrate) mit zuletzt 1 % weit vom EZB-Teuerungsziel von 2 % entfernt. Gleichzeitig sind zuletzt die Inflationserwartungen gefallen. Sie liegen derzeit ebenfalls bei rund 1 % und sind den Währungshütern zu gering. Eine Zinssenkung lässt sich also für die Eurozone ableiten – in Anbetracht niedriger Rezessionsrisiken allerdings nur unter Vorbehalt. Der Zins für Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB liegt mit –0.4 % ohnehin im ultra-expansiven Bereich.


Fed: Zinssenkung – warum eigentlich?

Noch erstaunlicher ist aber die Politik der US-Notenbank. Die US-Wirtschaft hat nach wie vor gute Chancen mit einer Rate von 2.5 % im laufenden Jahr zu wachsen. Darüber hinaus liegt die Kerninflationsrate des Konsumentenpreisindex mit zuletzt 2 % auf einem verhältnismässig hohen Niveau. Einzig die Preisveränderungen bei persönlichen Verbrauchsausgaben (PCE) ohne die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelpreise blieb mit zuletzt 1.5 % hinter der Zielvorgabe der US-Notenbank von 2 % zurück. Bislang gibt es auch keine Anzeichen, dass der Arbeitsmarkt vor einem deutlicheren Einbruch stehen würde: Die Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe sind in der Nähe der Allzeittiefs.

Die Notwendigkeit einer Zinssenkung lässt sich aus dem gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Bild jedenfalls nicht ableiten. Aber dennoch haben die Entscheidungsträger verbal den roten Teppich für eine Lockerung der Geldpolitik in den kommenden Monaten ausgerollt.


Deutliche Kehrtwende: Ein Novum

Die rasche und deutliche Abkehr von der Normalisierung der Notenbankpolitik ist ein Novum. In der Vergangenheit haben Währungshüter nicht selten eine «harte Landung» – also eine Rezession – riskiert, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern. Nun wird bereits bei den ersten Anzeichen eines wirtschaftlichen Abschwungs zurückgerudert. Die EZB hat gerade einmal vor sechs Monaten ihre Wertpapierkäufe eingestellt, die US-Notenbank hatte noch im Dezember den Leitzins erhöht. Über die möglichen Gründe für das nun sehr abrupte Einlegen des Rückwärtsganges
kann nur gemutmasst werden.

Plausibel erscheinen die folgenden Argumente:

  • Träge Inflationsentwicklung: Die Teuerungsraten fielen über den Aufschwung der vergangenen Jahre hinweg gemessen an den Notenbankzielen entweder zu niedrig aus oder erreichten die von den Währungshütern gewünschten Werte von 2 % nur knapp. Viele Konsumgüter und Dienstleistungen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich billiger geworden. Online-Shops und neue elektronische Dienstleistungen vergünstigen Waren und Serviceangebote. Aber auch neue Anstellungsverhältnisse dämpfen den Lohn- und damit auch den Inflationsdruck.Darum fällt trotz der erreichten Vollbeschäftigung der US-Wirtschaft und einer Arbeitslosenquote von 3.6 %, das Wachstum der Löhne mit etwas über 3 % verhältnismässig gering aus. Bei einer Inflation unter der angestrebten Rate von 2 % haben Notenbanken somit einen im Vergleich zu früheren Episoden grösseren Freiheitsgrad bei geldpolitischen Entscheidungen.
  • Konjunkturelle Entwicklung: Das globale verarbeitende Gewerbe leidet unter den Handelsstreitigkeiten. Die höheren Zollsätze im Handel zwischen den USA und China bremsen den Welthandel. Das globale Exportvolumen lag zum Jahresende 2018 und zum Jahresbeginn gegenüber dem Vorjahr im Minus. Darunter leiden exportabhängige Volkswirtschaften wie die Eurozone. Dort ist der produzierende Sektor gemessen am Ausstoss bereits mitten in einer Rezession und auch jenseits des Atlantiks kommt die Industrie nicht ungeschoren davon. Weltweit hält sich die Binnenkonjunktur jedoch gut. Der private Konsum und die Bauwirtschaft bleiben vielerorts Stützen der Expansion, weshalb Risiken für die Gesamtwirtschaft überschaubar bleiben. Die schwache Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes kann aber durchaus zum Anlass für eine Lockerung der geldpolitischen Zügel herangezogen werden.
  • Angst vor einem deutlichen wirtschaftlichen Absturz: Die Finanzmarktkrise und die anschliessende Schuldenkrise in der Eurozone führten zu einer nie gesehenen expansiven Geldpolitik. Die EZB und auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) haben es trotz des langanhaltenden Aufschwungs nicht geschafft, die Leitzinsen zu erhöhen. Darüber hinaus sind die Bilanzen der Notenbanken wegen Wertpapierkäufen und Devisenmarktinterventionen noch immer aufgebläht. Einzig der Fed ist der Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik ansatzweise gelungen. Allerdings bleibt auch die Bilanzsumme der Washingtoner Institution weit über dem Vorkrisenniveau. Auch die sonst üblichen Zinsmechanismen sind aufgrund der hohen Überschussliquidität im US-Bankensystem ausgehebelt. Kurzum: Bei genauer Betrachtung ist auch selbst die Fed noch ein gutes Stück vom «Normalzustand » entfernt. Käme es zu einer schwerwiegenden Rezession, wären der Geldpolitik weitgehend die Hände gebunden. Genau deshalb dürfte den Entscheidungsträgern daran gelegen sein, aus der gegenwärtigen Abkühlung der globalen Konjunktur keine wirtschaftliche Kontraktion erwachsen zu lassen. Gelingt dies nicht, würde der begrenzte Handlungsspielraum offen zu Tage treten. Das Kalkül der Notenbanken dürfte deshalb sein, der Wirtschaft eine «sanfte Landung» zu ermöglichen.
  • Politische Einflussnahme auf die Fed: Donald Trump macht keinen Hehl daraus, was er über die Währungshüter des Landes denkt: «Sie haben keine Ahnung», wie er die Welt über den Kurznachrichtendienst Twitter wissen liess. Damit greift der US-Präsident die Zinspolitik in nie gesehener Direktheit und Schärfe an. Fed-Präsident Jerome Powell, von Trump ernannt, verweist stoisch auf die Unabhängigkeit der Institution. Doch die Furcht vor einem geldpolitischen Fehlentscheid wird im Umfeld politischer Anfeindung gross sein. Der Chef im Weissen Haus könnte ansonsten Versuche unternehmen, weitere ihm wohlgesonnene Notenbanker zu installieren, zwei Sitze im Führungsgremium sind derzeit vakant. Schafft Trump 2020 die Wiederwahl, wäre eine Verlängerung von Powells Mandat ungewiss. Die politische Einflussnahme ist jedenfalls grösser denn je.
Fazit

Zinssenkungen dürften sowohl bei der EZB als auch bei der Fed auf dem Programm stehen. Vermutlich wird die EZB bereits im Juli eine geldpolitische Lockerung in Aussicht stellen. Konkrete Massnahmen könnten im September folgen. Möglich wäre eine weitere Senkung des Einlagesatzes. Ebenfalls könnte die Fed im September eine Zinssenkung vornehmen. Die SNB muss in diesem Umfeld in Lauerstellung gehen. Das Augenmerk der eidgenössischen Währungshüter gilt dabei vor allem der Entwicklung des Schweizer Frankens. Wertet er auf, werden Devisenmarktinterventionen folgen. Eine Senkung des Einlagesatzes der SNB schliessen wir nicht aus, das dürfte aber nicht die erste Wahl sein.

Verantwortlich für den Inhalt

Bernd Hartmann, Leiter CIO Office
Autor: Dr. Thomas Gitzel, Chefvolkswirt


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