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Chinas Mission

Lesedauer: 9 Min
70 Jahre nach der Ausrufung der Volksrepublik sucht China eine neue Rolle. Das Wachstumsmodell ist an seine Grenzen gekommen und politisch ist die weitere Öffnung nicht ohne Risiko. Wie das Land der Mitte die Neuerfindung meistert, ist für den Rest der Welt mehr denn je bedeutsam.

Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas nach dem Tod von Staatsgründer Mao Zedong im Jahr 1976 ist beispiellos. Lag damals das Wohlstandsniveau, gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf, unter Ländern wie Haiti, Niger, Somalia oder Afghanistan, so rangiert es heute vor den Balkanstaaten und vielen südamerikanischen Ländern. Der Hunger konnte ausgerottet, die Armut verringert und die Lebenserwartung erhöht werden. Was aus Sicht des Westens einen Aufstieg darstellt, ist für China selbst eine Rückkehr zur früheren Grösse. Denn vor 200 Jahren erwirtschaftete die Volksrepublik gemäss Schätzungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rund ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung und damit deutlich mehr als Europa (23 %) und die USA (2 %) zusammen. Heute ist es zwar wieder die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt, aber das Pro-Kopf-Einkommen näher bei Schwellenländern als bei Industrienationen.

Rasante Veränderung seit Ende der Mao-Herrschaft

Tabelle - Veränderungen seit dem Tod Maos

Dieser Artikel macht den Auftakt zur Publikation Investment Views. Die Ausgabe für das vierte Quartal steht ganz im Zeichen Chinas. Die weiteren Themen sind: 

Noch wird die Werkbank benötigt
Gesucht: Kapital
Technologie dominiert
Die Rohstoff-Macht

Grenzen des Wachstums

So erfolgreich der bisherige Weg der Reformen und schrittweisen Öffnung auch gewesen ist, es wird zunehmend ersichtlich, dass China damit an seine Grenzen stösst.

  • Die hohe Spar- und tiefe Konsumquote begünstigt die Verschuldung und eine hohe Investitionstätigkeit.
  • Die Rendite der Investitionen sinkt, die Gefahr von Fehlallokationen nimmt zu.
  • Trotz Produktivitätsgewinnen stiegen die Löhne aufgrund von billigen Wanderarbeitern in den Küstenstädten lange nur unterproportional. Mittlerweile ist das Potenzial ausgeschöpft und der Zustrom abgeebbt.
  • Gestiegene Löhne und Billigkonkurrenz aus anderen Ländern führen dazu, dass China nicht mehr konkurrenzfähig produzieren kann. Die Textilindustrie etwa ist nach Bangladesch und Vietnam abgewandert, von wo aus sie nun nach Äthiopien weiterzieht.
  • Die Exportabhängigkeit der Wirtschaft und der Handelsbilanzüberschuss machen das Reich der Mitte anfällig für äussere Einflüsse. Dies zeigte sich während der Finanzkrise und zuletzt auch mit dem Handelskonflikt.
  • Der wirtschaftliche Aufstieg hat nicht im gleichen Masse zu einem verbesserten Schutz von geistigem Eigentum geführt. Zwar sind Gesetze zum Patent- und Markenschutz verschärft worden, doch es mangelt an deren Durchsetzung. Damit stösst China zunehmend auf Widerstand bei seinen Handelspartnern. Dies führt auch zu Gegenwehr bei Unternehmensübernahmen im Ausland.
  • Der Fokus auf hohe Wachstumsraten führte zwar Millionen Menschen aus der Armut, sorgt aber für ein grosses soziales Gefälle und Ungleichheit. Die klassenlose Gesellschaft existiert nur mehr auf dem Papier.
  • Diese Diskrepanzen gibt es nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb des Landes. Besonders die westlichen und zentralen Regionen können mit den enormen Wohlstandsgewinnen an den Küstengegenden nicht mithalten. Das BIP pro Kopf im nordwestlich gelegenen Gansu beträgt weniger als ein Drittel von Shanghai.
  • Das kompromisslose Wachstum geht auf Kosten der Umwelt, bedroht die Gesundheit der Bürger und belastet letztlich auch den sozialen Frieden.
  • Die Ein-Kind-Politik zeigt ihre negativen Folgen. China weist für ein aufstrebendes Land eine ungewöhnlich unvorteilhafte Altersstruktur auf.
Chinas Plan für die Wirtschaft von morgen

So gross die Herausforderungen auch sind, Chinas Führungskader ist sich derer bewusst und will die Rolle als «Werkbank der Welt» hinter sich lassen. Mit dem Auslaufen des aktuellen Fünfjahresplans im nächsten Jahr soll es keine Wachstumsvorgaben mehr geben. Doch selbst dann wird das Wirtschaftswachstum für die Führung zentral bleiben. Schliesslich ist die Schaffung von Wohlstand ihre Legitimation.

Der Umbau der Wirtschaft und somit die Senkung der Exportabhängigkeit stellt jedoch eine Mammut-Aufgabe dar. Immerhin steigt seit 2009 der Anteil des Konsums an der Wirtschaftsleistung. Der Konsum trägt heute rund zwei Drittel zum Wachstum bei. Damit verlagert sich das Interesse, von möglichst tiefen Löhnen, um international wettbewerbsfähig zu sein, hin zu einer Stärkung der Kaufkraft. Mehr Konsum bedeutet aber ebenso mehr Importe. Dadurch verschiebt sich die Priorität in der Währungspolitik weg von einem günstigen Renminbi, was die Internationalisierung der chinesischen Währung erleichtert.

Dies wiederum stellt die Exportindustrie vor eine Herausforderung. Denn China will ein bedeutender Produktionsstandort bleiben. Dementsprechend muss sich die Volksrepublik weiterentwickeln. Dies kann beispielsweise durch höherwertige und weniger arbeitsintensive Produkte erfolgen. Das Land, das bereits vier Jahrhunderte vor den Europäern den Buchdruck nutzte, will dabei nicht nur die Produktion übernehmen, sondern selbst auch Forschung und Entwicklung betreiben. Die durch das konfuzianische System geprägte Bevölkerung gilt grundsätzlich als äusserst wissbegierig. Auch an Studenten mangelt es nicht: Gemäss dem Bildungsministerium befinden sich knapp 6 Mio. junge Erwachsene in universitärer Erstausbildung und weitere 2.7 Mio. absolvieren ein Nachdiplom-Studium. Weitere 400'000 Chinesen absolvieren derzeit ein Doktorat. Quantität ist kein Garant für Qualität, denn Innovation lässt sich nicht erzwingen. China schneidet in den internationalen Schulleistungsvergleichen (PISA-Tests) der OECD gut ab, doch das Bildungssystem ist von Auswendiglernen und Wissenswiedergabe in Prüfungen geprägt. Um die nachrückende Generation für die neuen Anforderungen fit zu machen, wurde das Fach Kreativität auf den Stundenplan gesetzt. Andere asiatische Länder wie Japan oder Korea haben eine ähnliche Entwicklung bereits hinter sich. Hier hat sich gezeigt, dass, wenn ein Land selbst mehr Erfindungen patentieren lässt, der Schutz des geistigen Eigentums zunimmt.

Der Wandel vom quantitativen hin zum qualitativen Wachstum ist Kern der 2015 verabschiedeten Strategie «Made in China 2025». Das Reich der Mitte will damit zum Industrieland aufsteigen und den Status des Schwellenlands hinter sich lassen. Unter den Schlüsselindustrien finden sich viele Zukunftsbranchen, wie die Roboter- oder Umwelttechnologie. Allerdings: Bei vielen dieser Technologien, wie etwa der künstlichen Intelligenz, greift China direkt die USA an, deren Unternehmen hier eine Führungsrolle innehaben. Bei den Verhandlungen zur Beilegung des Handelskonflikts dürfte dieser beidseitige Führungsanspruch in Zukunftstechnolgien eine wichtige und schwierige Rolle spielen.

Auf der Suche nach neuen Wettbewerbsvorteilen hat China die direkte und schnelle Anbindung an seine Handelspartner identifiziert. Denn um möglichst flexibel auf Kundenbedürfnisse reagieren zu können, ist eine schnelle Lieferung entscheidend. Dies ist der Grund für die Belt-and-Road-Initiative (BRI), welche das Reich der Mitte über den nördlichen Land- und südlichen Seeweg logistisch näher an seine Abnehmer rücken soll. Auch hier knüpft China an seine Geschichte an, weshalb das Projekt auch als neue Seidenstrasse bezeichnet wird. Über den Seeweg benötigten Waren von China nach Europa bisher sechs Wochen. Als Teil der BRI wurde nun neben China–Duisburg auch eine zweite, direkte Güterzug-Verbindung zwischen China und Österreich eingerichtet. Dadurch reduzierte sich die Lieferzeit auf zwei Wochen. Neben dem ökonomischen Aspekt verfolgt das Land damit auch strategische Interessen. Durch den Bau des 135 Kilometer langen Kra-Kanals im Süden Thailands müssen die Schiffe nicht mehr durch die strategisch wichtige Strasse von Malakka. Allerdings verschlingen solch riesige, strategische Bauprojekte enorme Summen. Im Rahmen der BRI übernimmt die Volksrepublik viele Infrastrukturinvestitionen in finanzschwachen Ländern. Damit geht allerdings auch ein enormer Ausbau von Macht und Einfluss einher, was zu einseitigen Abhängigkeiten gegenüber China führt. Deshalb ist das BRI-Projekt international durchaus umstritten.

Politisch geht China auf Nummer sicher

Ökonomische, ökologische sowie soziale Entwicklungen führen dazu, dass das bisherige chinesische Erfolgsmodell an seine Grenzen gestossen ist. Gleichzeitig verfolgt China, basierend auf seiner einstigen Rolle, einen weitaus höheren Anspruch. Dahinter steckt wohl nicht nur die romantische Vorstellung, an die einstige globale Vormachtstellung anzuschliessen, sondern auch viel Eigennutz der Führung. Denn solange weite Teile der Bevölkerung Wohlstandsgewinne verzeichnen, wird die soziale Ungleichverteilung akzeptiert und die Bevölkerung begehrt nicht gegen das politische System auf. Somit kann sich China aber auch keine grössere Wachstumsschwäche leisten. Doch der Umbau der Wirtschaft führt kurzfristig unweigerlich zu Wachstumsrisiken.

Staatspräsident Xi Jinping antwortet auf die Risiken des Umbaus Chinas, indem er die Macht konzentriert und den politischen Kurs anpasst. Im März 2018 hob der Nationale Volkskongress die nach dem Ableben Maos eingeführte und bisher auch stets respektierte Amtszeitbeschränkung auf. Xi ist somit Präsident auf Lebenszeit. Dieses Amt ist unter den drei Ämtern, die er ausfüllt, allerdings das unbedeutendste. Es umfasst in erster Linie repräsentative Aufgaben, die politische Macht ist limitiert. Weitaus einflussreicher ist das Amt des Parteisekretärs der Kommunistischen Partei, welches Xi ebenfalls innehat und für welches es seit jeher keine Amtszeitbegrenzung gibt. Zudem ist er Vorsitzender der zentralen Militärkommission und hat so direkten Zugriff auf die Streitkräfte. Mit dieser Machtfülle steht Xi auf einer Stufe mit dem Staatsgründer Mao Zedong.

Xi verfolgt politisch einen zweigeteilten Kurs. Nach aussen tritt er gerne als Verteidiger der Globalisierung auf, so etwa vor zwei Jahren am Weltwirtschaftsforum in Davos. In seiner Rede vor den Mächtigen der Welt kritisierte er nationalistische Tendenzen, besonders jedoch die vom US-Präsidenten Trump verfolgte «America first»-Politik. Innenpolitisch hingegen verfolgt Xi einen ähnlichen Kurs, der als «China first» bezeichnet werden kann, in Anlehnung an den oben genannten Wahlslogan von Trump. So beschwört er die chinesische Identität und deren Werte und spricht vom «rechtmässigen Platz im Zentrum der Welt», den China beansprucht. Gleichzeitig leiden die Meinungsfreiheit in der Presse und in den sozialen Medien. Xi beschwört aber auch die Partei, die er als einzige moralische Instanz sieht, die dem Werteverfall Einhalt gebieten kann. Als probates Mittel gilt hierbei auch die Überwachung der Bürger, welche unterstützt durch neue Technologien wie Überwachungskameras, Gesichtserkennung und künstliche Intelligenz, ganz neue Möglichkeiten erlangt.

Begründet wird die auch für China ungewöhnliche Machtfülle mit der für den Umbau notwendigen Stabilität. Die Betonung der chinesischen Ideologie soll wohl auch die ungebrochene Vormachtstellung der Partei sichern, für den Fall, dass die Kommunistische Partei durch wirtschaftliche Turbulenzen in Frage gestellt wird. Es sieht so aus, als solle mit starken, identitätsstiftenden Werten auch ein Gegenpool zu den westlichen Einflüssen geschaffen werden. Mit der zunehmenden Öffnung Chinas werden diese unweigerlich an Einfluss gewinnen. Auch dies ist eine alte Sorge der Chinesen, denn ein bekanntes Sprichwort besagt: «Wenn man die Fenster öffnet, um frische Luft hereinzulassen, kommen auch die Fliegen.»

Fazit

Die immer stärker ersichtlichen Grenzen des bisherigen Wachstumsmodells einerseits und die hochgesteckten Ziele anderseits fordern von China grosse Veränderungen. Die politische Führung ist sich der Herausforderungen durchaus bewusst und hat bereits verschiedene Initiativen lanciert. Ziel ist ein qualitativ besseres und nachhaltigeres Wachstum. Dies bedeutet aber auch einen Abschied von den nicht mehr haltbaren, hohen Wachstumsraten der Vergangenheit. Der damit einhergehende Wohlstandsgewinn dürfte wohl dazu beigetragen haben, dass der Machtanspruch der Kommunistischen Partei bisher nie ernsthaft in Frage gestellt wurde. Mit der Anpassung des Wirtschaftsmodells steigen nun aber auch die kurzfristigen Risiken. Chinas Führung setzt deshalb flankierend auf politische Mittel. Damit lässt sich auch dem im Zuge der zunehmenden Öffnung steigenden Einfluss des Auslands aktiv entgegentreten. Fakt ist, China braucht den Rest der Welt genauso wie der Rest der Welt China braucht.

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Autor

Bernd Hartmann,
Chefstratege VP Bank

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