Expertenmeinung

Aufhören, wenn’s am schönsten ist?

Lesedauer: 3 Min
2019 beweist sich für Investoren über nahezu alle Vermögensklassen als gewinnbringend und die Aussichten könnten fast nicht besser sein: Die Notenbanken in den USA und in Europa stellen erneut eine lockere Geldpolitik in Aussicht, die Schweizerische Nationalbank SNB kann sich noch tiefere Negativzinsen vorstellen, China stützt mit konjunkturfördernden Massnahmen die heimische und hoffentlich auch die internationale Wirtschaft.

Zusätzlich stimmen die positiven Signale bezüglich einer baldigen Einigung im Handelsstreit zwischen den USA und China Anleger optimistisch. Und um alle Skeptiker in Erklärungsnot zu bringen, sind nicht nur die Zahlen der aktuellen Berichterstattung über das erste Quartal deutlich besser als erwartet, auch das Wachstum des US-Bruttoinlandprodukts lag im ersten Quartal mit 3.2 % erheblich über den Prognosen.

 

Hohe Aktienrenditen überschatten schwache Gewinnentwicklung

Die bisherige Jahresperformance in Aktien, Dividenden inklusive, trägt dieser Entwicklung Rechnung, ganz besonders in China (+25.5 %) und in den USA (+21.2 %). Aber auch Unternehmen mit intensiven Geschäftsbeziehungen ins Reich der Mitte – hier unter anderem der europäische Automobilsektor (+25.3 %) – rentieren in diesem Jahr nicht nur absolut gesehen gut, sondern schlagen sich auch relativ besser als viele andere Regionen und Sektoren.

Gleichzeitig sinken aber die Gewinnerwartungen für das laufende Geschäftsjahr auf neue Tiefstände. Grundsätzlich ist dies nicht ungewöhnlich, jedoch ist die Intensität der Gegenläufigkeit zwischen Erwartung und harten Fakten im historischen Kontext sehr selten. Betrachtet man dann die Gewinnzahlen-Überraschungen im Detail, zeigt sich, dass in vielen Fällen lediglich auf sehr tiefer Basis ein optischer Erfolg erreicht wurde. Parallel sanken die Risiken, gemessen an der Volatilität von Aktien und an den Kreditaufschlägen von Anleihen. Diese «Stille» wirkt schon fast bedrohlich und die nicht-kommerziellen Leerverkäufe des Volatilitätsindex (VIX) in den USA haben einen historischen Höchststand erreicht. Anleger setzen also auf einen anhaltenden Kursanstieg.

 

Sell in May and go away?

Eine schwierige Situation für Anleger. Es ist wie auf der Party, wenn der euphorische Höhepunkt erreicht, man eigentlich müde ist und gehen will, aber man irgendwie doch das Gefühl hat, irgendetwas zu verpassen. Der Volksmund rät, man solle aufhören, wenn es am schönsten ist. Trifft dies auch für das aktuelle Marktumfeld zu? Statistisch betrachtet liefern die meisten Aktienmärkte über die Sommermonate hinweg schwächere Renditen als während der Herbst- und Wintermonate. Grossen Einfluss auf diese Betrachtung haben die überwiegend negativen Renditen im Juni. Wir sorgen uns im aktuellen Marktumfeld jedoch weniger um diese statistischen Erkenntnisse, sondern um den etwas leichtfertigen Umgang mit Anlagerisiken und die extreme Kluft zwischen Hoffnungen und harten Fakten. Letztere bleiben nach wie vor Mangelware. Ob das Fed wirklich wie erhofft gegen Ende dieses Jahres die Zinsen senken wird und sich wichtige Wirtschaftsimpulse aus einer Lösung im Handelsstreit zwischen USA und China ergeben, ist weiterhin ungewiss. Auch stellt sich die Frage, wie viel zusätzlichen Wert das Eintreffen dieser Ereignisse noch bieten können wird, denn diese Erwartungen sind bereits zu einem guten Teil in den Kursen der Aktien eingepreist. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Party für den Moment wirklich vorüber ist. Wir erkennen in der aktuellen Marktphase eine gute Gelegenheit, die Aktienportfolios gründlich auf eine ausgewogene Diversifikation zu prüfen und den Kapitalerhalt in den Vordergrund des Anlagefokus zu stellen.

 

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Finanzmarktkommentar von
Harald Brandl
Senior Investment Strategist

#Investment Research

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